Soteria

„Wir erhalten möglichst viel Normalität“

Lange Flure, viele Patienten: Psychiatrische Stationen sehen oft kaum anders als somatische Stationen aus.

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Für Menschen in einer psychotischen Krise ist das belastend. Deshalb gibt es die „Soteria“. Dort tragen die Architektur und ein Konzept, das auf Nähe und Gemeinschaft setzt, zur Entspannung bei.

Wenn man plötzlich Ängste verspürt, die den Blick auf das Leben verdrehen, außerordentlich große Ängste, die alles beherrschen: Ist dann eine psychiatrische Station mit ihren langen Fluren, ihrem Krankenhauslicht, ihrem Krankenhaus-Sound und der großen Zahl an Patienten der richtige Ort, um wieder Vertrauen zu finden?

Nicht unbedingt, sagt der Psychiater Dr. Martin Voss aus Berlin: „In vielen Fällen gibt es sogar keinen schlechteren Ort.“ Zwar habe sich sehr viel getan. Die Stationen von heute sind nicht mehr mit den Stationen von früher vergleichbar, und eine zugewandte Kultur in den Häusern mache auch schon viel aus. „Allerdings sehen die Stationen immer noch wie somatische Stationen aus. Viele Menschen in einer psychotischen Krise würden von einer anderen Atmosphäre stark profitieren.“ Einer Atmosphäre, wie sie in seiner „Soteria“ im Alexianer-St. Hedwig-Krankenhaus herrscht.

In der „Soteria“ erinnert wenig an eine Klinik

Martin Voss öffnet die Tür. Und schon steht er in einem stylischen Appartement mit Wohnküche, Fernseh-Sofa und Kicker – der Architekt Jason Danziger, der den Umbau plante, überließ weder die Form des langen Esstisches noch die Farbe des indirekten Lichts an der Decke dem Zufall. Die Möbel in den Patienten-Zimmern sehen aus wie in einem Großstadt-Hostel. Über den Türen sind keine blinkenden Rufanlagen, an den Flurwänden keine Haltestangen zu sehen.

„Wir versuchen, eine möglichst reizarme Umgebung zu schaffen, in der sich Menschen in einer psychotischen Krise entspannen können, und das beginnt mit der Architektur“, sagt Martin Voss. „Möglichst wenig erinnert daran, dass wir uns in einer Klinik befinden. Nichts wirkt bedrohlich.“

Auf einer gewöhnlichen Station würde Voss an diesem Morgen rund dreißig Patientinnen und Patienten besuchen. In Form einer Visite. Die zwölf Bewohner der „Soteria“, alles junge Erwachsene, schnibbeln gerade Gemüse für die Kartoffelsuppe, als Voss zu ihnen schlendert. Bei der gemeinsamen Mahlzeit, angekündigt durch einen Gongschlag im Flur, sitzt das Klinik-Team neben den Bewohnerinnen und Bewohnern am Tisch, als sei die „Soteria“ eine große Wohngemeinschaft auf Zeit und nicht Therapie.

Der volle Titel von Martin Voss ist etwas verwirrend: Er ist Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus. Wobei das St. Hedwig-Krankenhaus wiederum mit vollem Titel Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus heißt.

Wichtiger ist: Voss teilt sich die Leitung der „Soteria“ mit dem Krankenpfleger Götz Strauch. Der war vom Soteria-Konzept bereits begeistert, als er 2009 gemeinsam mit dem damaligen Chefarzt Dr. Jürgen Gallinat und anderen Alexianer-Kollegen die Zehnjahresfeier der ersten deutschen Soteria in Zwiefalten besuchte: „Das offene Setting hat mich so überwältigt, dass ich im Folgejahr eine Hospitanz machte und nie wieder so arbeiten wollte wie früher.“

Aber wie sollte das gehen – daheim in Berlin? Ein Krankenhaus muss sich wirtschaftlich rechnen und effizient aufgestellt sein. Die Idee einer kleinen Station, womöglich in einer freistehenden Villa wie in Zwiefalten, klang nicht danach.

Bis die Chance plötzlich da war: 2011 erhöhte sich die (regional festgelegte) Betten-Anzahl für die Hedwigs-Klinik ein wenig. Durch die Eröffnung des neuen Bettenhauses auf dem Gelände stand gleichzeitig ein langer Flur im Altbau frei. Und Lust auf Innovation gab es im Management auch – sonst wäre kurz zuvor nicht das integrative „Weddinger Modell“ an der Klinik entstanden.

Die kleine Gruppe, die damals von der Einrichtung einer „Soteria“ träumte, kontaktierte die Geschäftsführung. Rang mit ihr zwei Jahre. Und erhielt grünes Licht. Den Besuchern des Eröffnung-Symposiums 2013 erklärte man die Einrichtung so: „Nach Bern, Zwiefalten, München-Ost und Reichenau ist es die fünfte Einrichtung dieser Art im deutschsprachigen Raum. Mit „Soteria” (altgriechisch: Heilung, Wohl, Bewahrung, Rettung) wird ein Behandlungsansatz zur Begleitung von Menschen in psychotischen Krisen bezeichnet, bei dem die sogenannte 'Milieutherapie' im Zentrum steht.“

Auch andernorts wären Soteria-Elemente möglich

Es gibt Kolleginnen und Kollegen von anderen Stationen und Krankenhäusern, die bezweifeln, dass sie persönlich für die Arbeit in der „Soteria“ geeignet wären. Für die Arbeit in Soteria-Einrichtungen muss man der passende Typ sein. Rückzugsmöglichkeiten für das Team gibt es kaum, weil Nähe und Gemeinschaft zählen (in Corona-Zeiten eine riesige Herausforderung, auch das Essen am Tisch fällt gerade aus).

Aber es wäre schon gut, sagt Martin Voss, wenn es mehr Soteria-Einrichtungen oder zumindest mehr Einrichtungen mit Soteria-Elementen geben würde  – angefangen von einer Architektur, die auf den Zweck der Räumlichkeiten stärker Rücksicht nimmt, als es oftmals der Fall ist. „Die Soteria in Reinform ist sicherlich nur etwas für eine gewisse Patientengruppe“, sagt er. „Aber einzelne Dinge, die wir im Soteria-Alltag als positiv erleben, würden auch klassischen Stationen guttun.“ Ob man sie übernimmt oder nicht, sei eher eine Frage der Haltung als eine Frage des Geldes.


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