Ein Tag in der Seelsorge

„Eine unheimlich schöne Aufgabe“

Jutta Kasberg kümmert sich als Seelsorgerin um die Bewohnerinnen und Bewohner, Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Alexianer-Einrichtungen in Münster.

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Es ist kein alltäglicher Beruf, sich um psychisch kranke und geistig behinderte Menschen zu sorgen, aber eine Arbeit, die wie wenige andere an die Wurzeln des christlichen Wirkens erinnert. Eine Begegnung in der Christophorus Klinik für forensische Psychiatrie, die zum Tätigkeitsfeld dazugehört.

Schwer zu sagen, wie viele Patienten heute kommen. Manchmal kommen viele, hat Jutta Kasberg im Vorfeld gesagt, manchmal nur zwei oder drei. Aber das spielt ja auch keine Rolle. Seelsorgerische Arbeit ist in Zahlen nicht messbar. Und schon in gewöhnlichen Gemeinden machen Gottesdienste nur einen Teil des Alltags einer Seelsorgerin aus – hier hingegen ist wenig gewöhnlich. Seelsorgerin Jutta Kasberg steht vor der forensischen Psychiatrie in Münster-Amelsbüren, in der 54 Straftäter mit verminderter Intelligenz behandelt werden, meldet sich am Tor an, durchläuft die Schleuse und geht zur kleinen Kapelle hinüber, die den Mittelpunkt der Anlage bildet.

Sie legt Kerzen und Klanginstrumente auf den Altar und greift sich eine Bibel, die sie einem Patienten versprochen hat. Dann überquert sie das Gelände, um erst mal nach den Patienten in den Häusern zu sehen: Menschen, von denen sich manchmal selbst die eigenen Familien abgewandt haben. Umso stärker fühlt sich Kasberg gefordert.

Als Theologin stand sie natürlich schon immer in der Tradition von Jesus, der ein Wanderprediger war und auf Menschen zuging; sie wirkte in Gemeinden im Ruhrgebiet und Münsterland und lange auch in der Studierendengemeinde in Münster. Hier, in der Christophorus Klinik, wird man aber dann doch noch einmal in besonderem Maße an den Kern des Christseins erinnert. Und an die Geschichte der Alexianer, die sich schon im Mittelalter um die Randgruppen der Gesellschaft sorgten.

Fast vergisst man den Zaun

Es ist ein sonniger Tag. Das helle Licht lässt das dorfähnliche Gelände ein bisschen fröhlicher aussehen als es ist. Einige Männer sitzen vor den Häusern und winken, als sie Kasberg erblicken. Fast vergisst man, dass die meisten Türen der Klinik nur mit einem Schlüssel passiert werden können. Fast vergisst man den Zaun.

Kann man vergessen, was die hier untergebrachten Menschen getan haben? Kasberg weiß: Niemand ist ohne Anlass im sogenannten „Maßregelvollzug“. Aber die Strafakten interessieren sie nicht. Die Patienten der Klinik sind keine schuldfähigen Täter: „Sie sind auf unterschiedliche Weise fast immer selbst Opfer gewesen, haben in ihren Leben Schlimmes erlebt.“ Und schon Jesus kümmerte sich unterschiedslos um alle, sagt Kasberg. Er machte sein Wirken nicht von irgendwelchen Vorgeschichten abhängig.

Sie hat keine Berührungsängste. Freundlich, aber resolut, geht sie in einem der Wohnhäuser auf Männer zu, die in einer Gemeinschaftsküche sitzen und Kaffee trinken; Kasberg ist ganz offensichtlich mit ihnen vertraut. Einer schüttet Kasberg sofort das Herz aus, ob es die Nebenstehenden hören oder nicht.

„Na, alles in Ordnung?“ Im Flur neben der Küche spricht Kasberg einen kräftigen Mann an, der heute nicht aus seinem Zimmer heraus darf. Kasberg kann ihn nur durch eine Öffnung in der Tür sehen, durch die ihm Mahlzeiten gereicht werden können. Er legt die Hände auf die Klappe, sie zittern. Dann sagt er leise: „Ich habe vorhin Blödsinn gemacht, Frau Kasberg.“ Sie hört ihm zu und sagt wenig. Man kann ja auch nicht immer etwas sagen. „Was auch wichtig ist in meinem Beruf“, sagt Jutta Kasberg, verbunden mit einem sehr direkten Blick in die Augen: „Einfach mal die Klappe zu halten.“

Ein jüngerer Mann mit Baseballkappe will ihr unbedingt zeigen, dass er sein Zimmer aufgeräumt hat. Ein älterer, den sie schon länger kennt, verschwindet aufgeregt – um mit einem Schokoriegel zurückzukehren, den er ihr schenkt. Ein dritter fragt sie im Vorübergehen, ob sie einmal in Ruhe für ihn Zeit hätte. „Ja, natürlich“, antwortet Kasberg. Mal wollen die Männer in solchen Gesprächen über ganz alltägliche Sorgen reden, mal einfach Luft ablassen über einen Mitarbeiter. „Und dann führt man wieder Gespräche, die sich zum Beispiel ums Thema Vergebung drehen oder Gottes Meinung zum Suizid.“

Das Tätigkeitsfeld der Seelsorger ist breit

Die Bandbreite ist groß. Kasberg unterstreicht dabei mehrfach, dass sie Seelsorgerin ist und nicht Therapeutin. Die Pastoralreferentin, die vom Bistum Münster an die Alexianer entsandt wurde, will die Patienten auch nicht bekehren: Sie will für sie da sein. „Und doch ist das Spirituelle, ist Gott, durch mich natürlich irgendwie mit im Raum, ob die Leute nun einer Religion anhängen oder nicht.“

Auch andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Anlage, Pflegende etwa oder Psychologen, entwickeln ein persönliches Verhältnis zu den Patienten. Aber ihre Rollen sind andere. Kasberg kann nichts anordnen und nichts verfügen. Sie ist zudem zum Schweigen verpflichtet.

„Dieser Job ist für mich eine unheimlich schöne Aufgabe“, sagt Kasberg, ohne dabei zu verhehlen, dass sie das, was sie tagsüber erlebt, abends nicht einfach wie eine Jacke an die Tür hängen kann. Sie merkt schon, dass sie die Arbeit auf Dauer prägt: „Ich werde draußen ungeduldiger mit den sogenannten Gesunden der Gesellschaft, die gar nicht realisieren, dass sie sich auf der Sonnenseite des Lebens befinden.“

Zu den Menschen, für die sie ein offenes Ohr hat, gehören neben den Patienten der Forensik auch die Patientinnen und Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der zum Beispiel Jugendliche mit Essstörung behandelt werden, die Bewohner der verschiedenen Wohnhäuser für geistig und psychisch Behinderte auf dem Alexianer-Campus sowie die Mitarbeitenden der Alexianer, deren Bedürfnis nach Seelsorge man nicht vergessen darf.

Vor ihrem heutigen Besuch in der Forensik war Kasberg im „Haus Thomas“, das dem Büro der aktuell vier Seelsorgenden in Amelsbüren gegenüberliegt. Ein Bewohner um die fünfzig, der in einem Rollstuhl saß und wie ein Kind grinste – „Du bist eine Oma und doof!“ – wollte unbedingt mit ihr singen. Also saßen sie wieder vor den Blumen am Haus. Kasberg sang das „Halleluja“ von Taizé in tiefer Lage, er in einer sehr hohen (und laut), nebenher erwähnte er seine Angst vor einer Hüftoperation.

Und dann kippte das „Halleluja“ auf einmal in „Es gibt kein Bier auf Hawaii“. Schallendes Gelächter. Die Arbeit mit psychisch kranken oder intelligenzgeminderten Menschen, sagt Kasberg, darf man sich nicht ohne lustige Momente vorstellen. Wobei der Spaß heute früh schnell wieder verflog. Eine ältere Bewohnerin, die ihr Gesicht unter einer Kapuze versteckt, steuerte auf Kasberg zu. Sie erzählte ihr von einem Albtraum, der ihr spürbar nachhing. Kasberg setzte sich mit ihr an einen Tisch, redete leise und lang. Bekam ein tapferes Lächeln zum Abschied.

Kurz vor fünf! In der Forensik schaut Kasberg auf die Uhr. Es ist Zeit für eine kleine Andacht. Sie geht quer über das Gelände zur Kapelle hinüber – mit sieben Männern im Schlepptau, wesentlich mehr als erwartet. Glocken sind keine zu hören, stattdessen Klangschalen, gegen die Kasberg schlägt, als sie den runden Sakralraum erreichen.

Sofort wird alles ruhig. Sogar der aufgedrehte junge Mann im Fußballtrikot, der Kasberg auf dem Weg zur Kapelle belagert hat, wird annähernd still. Ein Patient darf den Metallzungen einer Kalimba Töne entlocken. Kasberg setzt sich zwischen die Patienten und sagt, „dass Gott an uns denkt“. Es geht zu wie in einer Messe für Kinder. Sie sprechen eine kurze Fürbitte, während der zwei Teilnehmer unvermittelt von Alltagsgedanken abseits der Fürbitte berichten – kein Problem, Kasberg hört nickend zu, und auch die anderen im Raum signalisieren, dass es okay ist.

Dann weiter: Jeder Gottesdienstteilnehmer darf sich laut etwas wünschen und eine Kerze in einer Schale mit Sand anzünden. Der einzige im Rund, der lesen kann, liest einige Bibelzeilen vor. „Wollen Sie nicht vielleicht auch etwas singen?“, fordert Kasberg ihn anschließend auf. Er will es tatsächlich und singt so wunderschön, als käme der englische Song aus einem Winkel seiner Seele, die sonst gar nicht zugänglich ist. Anerkennendes Nicken von allen Seiten, sogar Applaus. Das Ganze wiederholt sich, als Kasberg auch anderen Männern Gelegenheit zu einem kurzen Lied gibt. Und schließlich: ein Vaterunser, gesprochen mit Gesten statt Worten. Sprache, sagt Jutta Kasberg, ist unter Umständen wie diesen nicht unbedingt das ideale Medium.

Sie ist zufrieden, als sie die Kapelle wieder abschließt und die Herren zurück zu ihren Stationen bringt: „Bei einem Gottesdienst wie diesem, der ja nicht wie ein traditioneller Gottesdienst ablaufen kann, geht es nicht zuletzt darum, den Raum, die Atmosphäre und Wertschätzung spüren zu lassen. Wenn es gut läuft, erfahren sie, von Gott angenommen zu sein.“

Sie wollte „nah am Leben“ arbeiten, sagt Jutta Kasberg. Wo geht das besser als hier, „an einem existenziellen Punkt zwischen Menschen, die alle sicherlich auch mal eine andere Vorstellung vom Leben hatten als das Leben in einer Einrichtung wie dieser?“

Und wenn es bedeutet, dass sie mit den Bewohnern der Christophorus Klinik „Uno“ oder „Mensch ärgere Dich nicht“ spielt – wie in den Monaten, in denen die Männer hinter dem Zaun wegen der Corona-Epidemie noch weniger Besuch bekamen als ohnehin und doch zugleich von neuen Ängsten getroffen wurden.


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